Liebe ausländische Leser, informiert eure Nachrichtenagenturen: in Österreich geschehen politisch seltsame Dinge.
Die Chronik der Ereignisse: Am 24. November 2002 fand in Österreich die Wahl zum Nationalrat statt. 10 Prozent der Bevölkerung stimmten dort für eine Partei namens FPÖ, deren umstrittenste Persönlichkeit Jörg Haider zum damaligen Zeitpunkt einfaches Parteimitglied war. Gemeinsam mit der ÖVP unter Wolfgang Schüssel bildete die FPÖ die Regierungskoalition. Gestern habens sich alle FPÖ-Mitglieder, die in der Regierung sitzen, von dieser Partei getrennt und einer neu gegründeten Partei namens BZÖ angeschlossen, deren Vorsitzender Jörg Haider ist. Diese neue Partei hält es für selbstverständlich, in der Regierung verbleiben zu können, obwohl bei der letzten Wahl niemand diese Partei gewählt hat und auch die FPÖ-Wähler damals einer Partei ohne Jörg Haider an der Spitze ihre Stimme gaben. Die Krönung: es wird gar von einer „stabilen Mehrheit“ gesprochen.
Nach meinem Demokratieverständnis müsste eigentlich der Bundespräsident ein Machtwort sprechen, die Regierung auflösen und Neuwahlen verkünden – ich halte das für eine äusserst bedenkliche Art der Regierungsumbildung. Wo bleibt ihr Eingreifen, Herr Fischer?
Update 11.4.2005: dieser Eintrag ging in abgewandelter Form auch direkt an Heinz Fischer. Offenbar dürften sich einige dutzend Staatsbürger an ihn gewandt haben – es gab nämlich sogar eine Antwort aus der Präsidentschaftskanzlei, die ich euch nicht vorenthalten möchte:
Im Original kam der Text als PDF im Originallayout des Kanzleibriefpapiers (auch OK, das kann man ja vielleicht einmal brauchen ;-)
Wien, 8. April 2005
Sehr geehrte Damen!
Sehr geehrte Herren!
Bei Bundespräsident Dr. Heinz Fischer und in der Präsidentschaftskanzlei sind in den letzten Tagen zahlreiche Zuschriften zu den jüngsten politischen Entwicklungen, insbesondere im Zusammenhang mit der Gründung des „BZÖ“ eingelangt. Im Auftrag des Herrn Bundespräsidenten darf ich den Erhalt Ihres Schreibens dankend bestätigen und zu einigen Anregungen, Vorschlägen oder Forderungen, die besonders häufig vorgekommen sind, folgende Feststellungen treffen:
1.) Der Bundespräsident hat vor der Wahl immer wieder und mit großer Bestimmtheit versprochen, im Falle seiner Wahl ein unparteiischer Bundespräsident zu sein, der seine Entscheidungen nicht von parteipolitischen Gesichtspunkten abhängig macht, sondern bemüht sein wird, auf das Gesamtwohl der Republik Bedacht zu nehmen. Er hat das auch nach seiner Wahl bekräftigt.
2.) Eine Entlassung der Bundesregierung ist nach den Bestimmungen der Bundesverfassung zwar möglich, kommt aber sicher nur in Frage, wenn damit unbestreitbar dem Staatsinteresse gedient wird. Außerdem muss man auch die Perspektive nach der Entlassung einer Regierung und insbesondere die Möglichkeiten für die Bildung einer neuen Bundesregierung im Auge behalten, und es ist derzeit bzw. bei den derzeitigen Mehrheitsverhältnissen im Nationalrat keine Mehrheit für eine andere politische Konstellation gegeben.
3.) Die vorzeitige Auflösung des in demokratischer Wahl gewählten Nationalrates durch den Bundespräsidenten (die übrigens nur über Vorschlag der Bundesregierung erfolgen kann!) wäre ein so schwerwiegender Eingriff in das parlamentarische System, dass dieser Eingriff wirklich nur im Falle eines absoluten Staatsnotstandes verantwortet werden kann. Ein solcher Staatsnotstand ist nicht gegeben, weil die Spaltung einer Regierungspartei nicht mit einem Staatsnotstand verwechselt werden darf. In diesem Zusammenhang ist auch die Feststellung wichtig, dass der Bundespräsident gerade in schwierigen Situationen ein ruhender Pol sein muss und nicht selbst zum Anlass für eine Verschärfung der Auseinandersetzungen werden darf.
4.) Zuletzt noch ein Gesichtspunkt, den man ebenfalls berücksichtigen sollte: Die Spaltung der FPÖ als Regierungspartei ist sicher ein ganz ungewöhnlicher Vorgang. Es ist möglich, dass sich dieser Spaltungsprozess fortsetzt, dass die Regierung ihre Mehrheit im Nationalrat verliert und somit vorzeitige Neuwahlen unvermeidbar werden. Dann wäre aber ein bestimmtes politisches Projekt an seinen eigenen Problemen und aus sich selbst heraus gescheitert und die Schuld daran könnte nicht auf den Bundespräsidenten oder andere Personen abgewälzt werden.
5.) Daher ist zusammenfassend festzustellen, dass es letzten Endes die Wählerinnen undWähler sein werden, die zum gegebenen Zeitpunkt spätestens im nächsten Jahr über die Zusammensetzung des Nationalrates und damit indirekt auch über die Möglichkeiten der Regierungsbildung entscheiden werden.
Ich darf Sie jedenfalls bitten, auch die vorstehend genannten Gesichtspunkte zu berücksichtigen, bedanke mich für Ihr Interesse und verbleibe
mit herzlichen Grüßen
Bruno Aigner
Sprecher des Bundespräsidenten
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