Ein Jahr danach

Heute vor genau einem Jahr: ein ganz normaler Tag im Büro. Mike sitzt an seinem Rechner im Nebenzimmer, ich sortiere Rechnungen und bereite alles für den Steuerberater vor. Am frühen Nachmittag plötzlich läuft draussen der Fernseher. Ich dachte erst, es freut Mike heut nicht mehr und deshalb wohl ein wenig Ablenkungsprogramm. Mike sagt, daß laut Radioberichten irgendein Flugzeug ins WTC gecrasht sein soll. Noch denken wir nix böses und sehen auf CNN einige Minuten später das zweite Flugzeug anfliegen. Einige Zeit danach stürzt der erste Turm ein.
Minuten später: das Telefon hört nicht auf zu klingeln. Immer wieder dieselbe Frage: ob wir denn Nachrichten gehört hätten. Ob wir ferngesehen hätten. Was wohl als Konsequenz passieren würde. Angst vor weltweiten Folgen. Und die Frage, ob es uns denn gut ginge. Die diversen Netzbetreiber müssen Unsummen verdient haben an diesem Tag.
Abends im Stammlokal: erstmals seit ich mich erinnern kann steht dort auf der Bar ein Fernseher. Alle Stammgäste sind versammelt und nur ein Thema wird diskutiert: Wie wirds weitergehen? Wie wird Amerika auf diesen Angriff reagieren? Eine düstere Stimmung, die wenig später in exzessiven Durst umschlägt. Durst nach Alkohol zum Betäuben der Eindrücke dieses Tages. Personen, die sich vorher nie miteinander unterhalten haben, plaudern. Pärchen für die Nacht finden sich, die man vorher nicht für möglich gehalten hätte. Es wird eine lange Nacht.
Die Menschen rücken zusammen an diesem Tag. Und fürchten sich vor den kommenden Wochen.

Der Standard: 11. September, ein Jahr danach

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Ernst Michalek
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